Ausnahmesituation in der Garderobe [FAZ 6.3.2012]

Die FAZ über das Matthias-Beltz-Stück im Frankfurter Autoren Theater. Artikel von Michael Hierholzer.

Die Türen sind verschlossen. Es gibt kein Entrinnen. Die Menschen sind auf sich selbst zurückgeworfen. Zwei Männer. Ihre Gehirne haben auf Alarm geschaltet. Es geht um nichts mehr, nur noch um alles: die reine Existenz. Erstaunlich, denn der Witzereißer Kasper und der Theaterschauspieler Eigenbrod sehen nicht etwa ihrem Untergang in einer Kabine der „Titanic“ entgegen, sondern kommen bloß aus ihrer Garderobe nicht mehr heraus. Jemand muss sie von außen verriegelt haben. Sie hatten auf ihren Auftritt gewartet. Jetzt rechnen sie mit dem Äußersten. Dem Ende. Dem Tod.

Die Ausnahmesituation missfällt ihnen keineswegs. Im Gegenteil, sie genießen sie außerordentlich. So viel Sinn war lange nicht mehr im Leben des Kleinkünstlers und des verkannten Vertreters der Hochkultur. Die traurige Routine ist mit einem Mal wie weggeblasen, das Individuum bereit zum Krieg gegen den Rest der Welt. Dieser existentielle Taumel wird zum Vater aller biographischen Phantasien: Matthias Beltz lässt in seinem Stück „Ich bin nichts. Ich hab nichts. Aber ich lach mich tot“ die von ihm geschaffenen Figuren, beide in fortgeschrittenem Alter, ein Endspiel aufführen, das in einen schöpferischen, vom Alkohol befeuerten Rausch mündet. Später, nachdem sich herausgestellt hat, dass das Ende gar keines war. Die Pforten öffneten sich wieder, Eigenbrod und Kasper absolvierten ihren Auftritt. Zurück in der Garderobe empfinden sie diesen Gang der Dinge zunächst als Betrug, doch das gemeinsame Abenteuer hat sie beflügelt. Für ein paar Augenblicke scheint wieder alles möglich. Sie schmieden Pläne. Wollen gemeinsam auftreten. Bis es doch wieder heißt: Gehen wir zum Griechen? Wie nach jeder Vorstellung irgendwo in der Provinz.


Das Zweipersonenwerk hatte der vor ziemlich genau zehn Jahren gestorbene Kabarettist einst für sich und den Bühnendarsteller Ulrich Wildgruber geschrieben, doch es kam zu keiner gemeinsamen Aufführung mehr. Später hat Beltz das Stück zusammen mit Gerhard Knebel als Hörspiel aufgenommen. In Mainz wurde es einmal gespielt, in Frankfurt noch nie. Jetzt hat es Wolfgang Spielvogel im Frankfurter Autoren Theater inszeniert, mit Detlev Nyga als Eigenbrod und Ilja Kamphues als Kasper, Beltz‘ Alter Ego, in der Hausener Brotfabrik mit einem jener typischen buntgestreiften Anzüge ausgestattet.

So fängt es an: Die beiden treffen sich im Umkleideraum einer Sporthalle, wo sie bei einer Benefizveranstaltung für Obdachlose auftreten sollen. „Drecksladen“ ist Eigenbrods und der Inszenierung erstes Wort, und wenig später charakterisiert Kasper den Ort: „Stinkt ja wie im Affenhaus.“ Nicht mal ein paar belegte Brötchen haben die Veranstalter hingestellt, eine Stimme aus einem Lautsprecher gibt pausenlos Anweisungen, die offenbar andere Akteure des Abends betreffen, und die beiden Herren liefern sich ob ihrer vermeintlich so unterschiedlichen Tätigkeiten auf dem Sektor der darstellenden Kunst einen launig-frustrierten Schlagabtausch. Bis zu der spezifisch Beltzschen Wendung zum Eigentlichen, zum Entscheidenden, zur Klarheit: Die Ausweglosigkeit, auch wenn sie nur eine eingebildete ist, führt spornstreichs zu starken Gefühlen, zum Blick fürs Wesentliche, zu plötzlich über die Akteure kommenden Selbst- und Welterkenntnissen.

Matthias Beltz kultivierte einen Hang zu Denkformen, die sich seinerzeit mit dem linksalternativen Milieu kaum vertrugen: Der Komödiant, der einst als Fließbandarbeiter in Rüsselsheim das Proletariat zu befreien trachtete, während dieses lieber Feierabend machen wollte, bekannte sich etwa zu Carl Schmitt und hegte eine Vorliebe für dessen bellizistische Metaphern. Bei seinen Kabarettprogrammen dehnten sich die Gedanken mitunter quälend lang, bis sie von der Pointe erlöst wurden. Ähnliches gilt auch von dem Stück, das ein echter Beltz ist, so echt, wie es ohne ihn, den nicht nur in Frankfurt schmerzlich Vermissten, eben geht. Kamphues und Nyga agieren trefflich zwischen dem tragischen Grund des Daseins und den vielen Momenten der Komik. Ein großartiger Abend. Alle Aufführungen im März sind ausverkauft.

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