Worte für den Missbrauch finden (FNP 29.11.2010]

Worte für den Missbrauch finden

Frankfurter Autorentheater spielt in Bad Nauheim – Opferanwalt: „Stück ist verdammt wahr“

Von Petra Ihm-Fahle

Auf Einladung des Vereins Wildwasser Wetterau führte das Frankfurter Autorentheater das Stück «Missbraucht» auf. Erzählt wird die Geschichte von drei Opfern.

Bad Nauheim. Zwischen den Sätzen der Schauspieler ist es so leise, dass man das Ticken einer Uhr hört. Das Frankfurter Autorentheater ist im Badehaus 2 zu Gast – auf Einladung des Vereins Wildwasser. Dargeboten wird das Stück «Missbraucht». Drei Darsteller sind beteiligt, jeder erzählt die Geschichte eines Protagonisten. Alles basiert auf wahren Berichten.

«Ich habe mich gegen seine Überfälle immer gewehrt. Ich habe geweint, geschrien», schildert eine junge Frau (Sandra Baumeister). Die Mutter habe von Anfang an gewusst, was vor sich ging. «Sie hat verdrängt, weggeguckt. Sie konnte nicht glauben, dass in einem so guten Mann so etwas Schlechtes sein kann.» Peu à peu habe sich der Papa genähert. Er streichelte ihr Haar, bürstete es. Schöne Ausflüge habe er mit ihr unternommen. Als er sie das erste Mal auf eine Weise küsste, die sie nicht in Ordnung fand, wehrte sie sich. «Er sagte, das macht jeder Vater mit seiner Tochter. Man darf es jedoch nicht erzählen – das gehört sich nicht . . .»

Seelische Störungen

Viktor Vössing gibt die Geschichte von Norbert Denef wieder. Ab seinem zehnten Lebensjahr wurde er von einem Pfarrer missbraucht. Er schrieb ein Buch, er kämpft, damit die Verjährungsfristen für Missbrauch aufgehoben werden. Seine Erlebnisse in Kindheit und Jugend führten dazu, dass er seelische Störungen entwickelte. Vössing schildert, wie Denef immer wieder plant, die Karten auf den Tisch zu legen: Seine Familie wird vor ihm sitzen, er erzählt alles. Ein ums andere Mal übt er seine Rede.

Ilja Kamphues gibt die Geschichte «Sprachloses Kind» von Autor Bodo Kirchhoff wieder. Kirchhoff war Schüler in einem evangelischen Internat. Eines Tages hatte er Kopfschmerzen. Ein etwa 30-jähriger Kantor, den er Winnetou nannte, nahm ihn mit in sein Zimmer. Er zog den Schlafanzug des Jungen aus, nahm seinen Kopf in die Hände und küsste ihn.

Keine Entschädigung

Aus Höflichkeit erwiderte das Kind den Kuss: «Ich dachte, das ist seine Art, Kopfweh zu heilen.» Es kam zu sexuellen Übergriffen, die sich fortsetzten. Physische Gewalt sei nicht Bestandteil gewesen. «Missbrauch spielt sich auch auf dem weiten Feld der Liebe ab», sagt er. Jedoch sei es ein viel zu frühes Begehrtwerden gewesen. Es verwirrte ihn völlig. «Winnetou» flog später auf und musste die Schule verlassen. Die mangelnde Fähigkeit, über das Geschehene zu sprechen, setzte Kirchhoff massiv zu. Aus diesem Grund, glaubt er, wurde er Schriftsteller: Es gab ihm die Möglichkeit, Worte zu finden.

In der anschließenden Diskussion sagt Rechtsanwalt Thorsten Kahl: «Dieses Stück ist verdammt wahr. Es hat mich sehr mitgenommen.» Kahl vertritt zahlreiche Opfer von Missbrauch. Zehn ehemalige Odenwaldschüler sind darunter. Die Betroffenen litten stark unter den Geschehnissen. «Sie sind kaputt, haben einen Knacks. Ich kenne keinen, der eine normale Vita entwickelt hat.» Die Leute hätten hohe Kosten, beispielsweise um Psychotherapie zu bezahlen. Teilweise lebten sie von Hartz IV. Das Gebaren der deutschen Justiz macht Kahl wütend: «Keins der Opfer wurde bislang entschädigt oder erhielt eine Entschuldigung.»

Artikel vom 28. November 2010 auf den Webseiten der FNP (letzte Änderung 29. November 2010, 04.19 Uhr)

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