In den Kinderseelen bleibt ein Albtraum [FNP 1.6.2010]

Das Frankfurter Autoren Theater brachte in der «Brotfabrik» drei Texte zum Thema Missbrauch zur Uraufführung.

«Ich bin missbraucht worden!», sagt ein Mann. Das Bekenntnis steht beklemmend über dem ganzen Abend. Wenn es darum geht, auf brennende Probleme unserer Zeit mit den Mitteln des Theaters zu reagieren, ist das Autorentheater immer wieder am Puls der Zeit.

Den ersten Text, «Sprachloses Kind» von Bodo Kirchhoff, spricht Ilja Kamphues. Im hellen Anzug sitzt er an einem Tisch und berichtet vom sexuellen Übergriff eines Lehrers an einem Internat am Bodensee, hantiert dabei umständlich mit Spielzeugfiguren, die er aus einer Pappschachtel fischt. Kamphues steigert sich bei der Schilderung der Ereignisse mehr und mehr, steht schließlich auf, wendet sich frontal ans Publikum, um seine Betroffenheit auf die Zuhörer zu übertragen. Was ihm gelingt; wenn er mit Kreide die psychosozialen Konsequenzen des Erlebten stichwortartig aufschreibt, herrscht nackte Bestürzung. Eine merkwürdige Rolle spielt hier Viktor Vössing, der im Halbdunkel in der Ecke sitzt, stumm den Bericht verfolgt und erst nach den letzten Worten des Monologs einen sakralen Choral anstimmt.

Sandra Baumeister setzt sich dann im roten Sommerkleid auf den Boden und erzählt mit ruhiger Stimme die Geschichte «Mein Vater», der sie missbrauchte, die wissende Mutter griff nicht ein. Ein intensiver Vortrag, der auf einem Text basiert, dessen Autor anonym bleiben will. Anschließend führt die Schauspielerin einen eindringlichen Ausdruckstanz zu Auszügen aus Mozarts «Requiem» auf. Ein Epilog folgt. Abermals tanzt Baumeister mit drahtigen Bewegungen, nun zur Musik von Arvo Pärt.

Das dritte Monodrama titelt «Alles muss raus», es stammt von Wolfgang Spielvogel, der auch konzentriert Regie führt. Victor Vössing ist zu erleben, wie er eine Rede plant, bei der er der Verwandtschaft berichten will, wie er vor 35 Jahren Opfer eines katholischen Geistlichen geworden ist, der bei dem Treffen anwesend sein wird und beschuldigt werden soll. Es ist ein Text, der einem ob der Dringlichkeit und Intimität den Atem nimmt. Vor einem Wust von Manuskripten auf einem kleinen Tisch wiederholt Vössing immer wieder den gleichen Text: traumatische Erfahrungen, Depressionen und sogar Suizidgedanken. Bewegend.
jsc

Artikel in der Frankfurter Neuen Presse vom 1. Juni 2010

4 Antworten

  1. 25. September 2010

    […] zu “Missbraucht. Drei Berichte” erschienen in der FR, OP  und FNP (1.6.2010) (siehe Menüpunkt […]

  2. 2. September 2011

    […] zu “Missbraucht. Drei Berichte” erschienen in der FR (31.5.2010), OP (2.6.2010) und FNP (1.6.2010). Das Stück wurde als Gastspiel in Bad Nauheim, Marburg und Darmstadt gezeigt. In diesem Monat […]

  3. 13. April 2012

    […] zu “Missbraucht. Drei Berichte” erschienen in der FR (31.5.2010), OP (2.6.2010) und FNP (1.6.2010). Das Stück wurde als Gastspiel in Bad Nauheim, Marburg und Darmstadt gezeigt. Zuletzt am 10. […]

  4. 26. Oktober 2012

    […] zu “Missbraucht. Drei Berichte” erschienen in der FR (31.5.2010), OP (2.6.2010) und FNP (1.6.2010). Weitere […]

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