Den Kanarienvogel als Geisel genommen [FAZ 13.09.2011]
Den Kanarienvogel als Geisel genommen
Von Zellen und Käfigen: Das Frankfurter Autoren Theater mit dem Stück „Tillas Tag“ von Ludwig Fels
Von Jürgen Richter
Es ist der Tag, an dem er die Zelle verlassen soll. Er war wegen Geiselnahme und Mord im Gefängnis. Man erwartet ihn mit Bier und Sekt, mit Chips und Flips an einem Ort, wo er eingesperrt werden soll für ein Liebesversprechen. Aber Ray kommt nicht heim zu Tilla, die er über eine Anzeige gefunden, hinter Gittern geheiratet und dann drei Jahre lang mit Briefen bei Laune gehalten hat. Er ist einfach verschwunden und hat damit zumindest für sich beantwortet, ob ein Mann im Knast mehr die Freiheit oder die Frau vermisst.
Die Frau in „Tillas Tag“ von Ludwig Fels entpuppt sich als Wächterin, die jeden verwahrt, der unter ihren Einfluss gerät. Den Sträfling glaubt sie für sich gewonnen zu haben mit seiner vermeintlichen Abhängigkeit. Seinen Kanarienvogel hat sie schon als Geisel genommen, und der erstbeste Kavalier aus dem Supermarkt soll im Bett gefesselt und zur Unterwerfung genötigt werden. Doch die Bindungsbestätigung, die aus den drei magischen Worten besteht, verweigert er. Statt „ich liebe dich“ bietet er „war ich gut?“ oder „leg dich hin“ oder „es ist hell“ an. Da ist der Kerl, den sie im Arm hält, ihr so wenig sicher wie der, der ihr auf dem amtlichen Dokument verschrieben ist.
Das Frankfurter Autoren Theater entwickelt eine Wanderung zwischen Emotion und Kalkül, die dem Publikum eine Orientierung ohne jede vertraute Konstellation abverlangt. Das beginnt mit dem Seitensprung, den sich die eher bieder gestrickte Heldin ausgerechnet dann genehmigt, als ihre Jahre zuvor beurkundete Ehe endlich vollzogen werden soll. Da es Überrumpelung im Leben gibt, muss sie auch in der Dramaturgie erlaubt sein. Sie liefert die Verlassene den Gästen ihrer Party aus, der kapriziösen Schwester, deren tyrannischem Liebhaber, dem flüchtigen Kavalier der letzten Nacht. Regisseurin Ellen Schulz setzt eine Angstvorstellung um, in der dem Gastgeber die eigene Veranstaltung entgleitet und er in die Nebenrolle als Servierer und Adressat für Beschwerden herabsinkt. Die Gäste, wenn auch in überschaubarer Zahl, toben sich hier mit ihren Egoismen und Aggressionen ungeniert aus. Erst da wird der Heldin bewusst, dass auch ihr Heim ein Käfig ist. Und anders als beim Kanarienvogel bringt weder die offene Tür noch das Fenster die Freiheit, denn Tilla kann nicht fliegen. Als Theaterfigur kann sie aber auch nicht einnehmen, weder ihre Männer noch ihre Zuschauer. Sie bleibt eines von vielen unsympathischen oder missratenen Mitgliedern einer hedonistischen Gesellschaft, was ja so unrealistisch nicht ist.
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