Theaterstück „Missbraucht“: Es dürfte Tränen geben [Bergsträßer Anzeiger 18.10.2011]

Theaterstück „Missbraucht“: Es dürfte Tränen geben

Von unserem Mitarbeiter Thomas Tritsch

Drei Menschen reden. Drei zerstörte Biografien. Drei Geständnisse des Unfassbaren. Nach vielen Jahren stummen Leidens bohrt sich das Unaussprechliche an die Oberfläche. Freistrampeln von der Last. Ein Theaterstück, das in der Psyche wühlt.

Es dürfte stickig werden im PiPaPo. Nicht wegen der Zuschauer, sondern wegen eines nach wie vor verstellten Themas: „Missbraucht“ konfrontiert mit drei Berichten von Opfern, die persönliche Erlebnisse auf unterschiedliche Weise der Öffentlichkeit offenbaren. Ein angenehmer Theaterabend ist nicht zu erwarten.

„Die Inszenierung hat mich gepackt und emotional fertiggemacht“, sagt Dr. Thorsten Kahl. In Bad Nauheim saß der bekannte Opferanwalt bei einer Aufführung des Frankfurter Autoren Theaters im Publikum. Er ist so bewegt, dass er das Stück als Veranstalter nach Marburg holte, wo es im April in der Waggonhalle für Aufsehen gesorgt hatte. Am 1. November kommt „Missbraucht“ nach Bensheim. Nach Stationen in Darmstadt, Frankfurt und Wiesbaden. Im Keller des Wambolter Hofs hat Kahl eine ideale Spielstätte gefunden: Intim, direkt und indiskret. Genau der richtige Ort für die distanzlose Sezierung menschlicher Schicksale.

Bei Theaterchef Dr. Jürgen Rehm und seinem Team hat Kahl offene Türen eingerannt. Der in Marburg lebende Jurist hatte nach einer Spielstätte gesucht, die – unweit der Odenwaldschule – einen passenden Rahmen für das einstündige Theaterstück bietet. Er vertritt unter anderen ehemalige Schüler der OSO, die wegen jahrzehntelanger Missbrauchsfälle und einer nach wie vor nicht gelungenen Aufarbeitung wiederholt in die Schlagzeilen geraten ist. Für die Schule ist der Anwalt eine Unperson: „Man blockiert jede Anfrage.“ In seinen 30 Jahren als Rechtsanwalt habe er „noch nie so viel gelernt“ wie im Dunstkreis der Odenwaldschule.

Thorsten Kahl vertritt grundsätzlich nur Opfer. Insbesondere jene von Sexualstraftaten. Um einen Täter zu vertreten, müsse man sich als Rechtsbeistand auf eine gewisse Weise prostituieren: Wer sich einmal auf die Seite der Opfer gestellt habe, könne nicht beliebig die Seiten wechseln. Kahl vertritt zwei Ex-Schüler der Odenwaldschule, die die Missbrauchsfälle in die Öffentlichkeit gebracht haben. Einer davon hat ein Buch geschrieben: „Wie laut soll ich denn noch schreien?“ Sein Pseudonym: Jürgen Dehmers – Synonym für die Aufklärungsforderungen rund um das ehemalige Vorzeige-Internat in Ober-Hambach. Ohne ihn wäre die Sache kaum ins Rollen gekommen. Im PiPaPo-Theater wird er im Anschluss an die Aufführung mit Dr. Thorsten Kahl und dem Publikum diskutieren. „Es wird sicherlich Tränen geben“, so der Anwalt über die bisherigen Vorstellungen, bei denen es eine starke emotionale Beteiligung gegeben habe.

„Es werden einige ihr Schweigen brechen“, sagt Wolfgang Spielvogel, der das Frankfurter Autoren Theater 2007 gegründet hat. In den Talks nach den bisherigen Vorstellungen gab es etliche Zuschauer, die sich im Theaterraum erstmals zu Wort meldeten und ihre Erlebnisse thematisierten. Die Kunst hatte ein Ventil geöffnet.

Spielvogels eigenes Stück „Alles muss raus“ ist die Zentrale der drei Episoden von „Missbraucht“. Das Monodrama ist angelehnt an einen autobiografischen Bericht von Norbert Denef (heute 62), der als Messdiener zwischen dem 10. und 18. Lebensjahr von einem Priester und dem Organisten einer katholischen Gemeinde missbraucht worden war. Nach einem Zusammenbruch musste er lernen, über seine Vergangenheit und sein Schicksal zu sprechen. In Spielvogels theatralischer Miniatur versucht sich ein Mann darauf vorzubereiten, wie er seiner Familie die Geschehnisse der Kindheit offenbaren kann – in Anwesenheit des kirchlichen Täters. Immer wiederholt er den gleichen Text, der möglicherweise niemals gesprochen wird.

„Dabei wird deutlich, wie zerstörerisch sexuelle Gewalt auf das gesamte Leben eines Opfers wirkt“, so der Regisseur im Gespräch mit dem Bergsträßer Anzeiger. Traumatische Erfahrungen, depressive Phasen und Suizidgedanken lenken einen körperlich wie psychisch schwer verletzten Menschen.

„Sprachloses Kind“ überschrieb der Frankfurter Schriftsteller Bodo Kirchhoff seine künstlerisch wie persönliche Auseinandersetzung mit dem selbst erfahrenen Missbrauch als Zwölfjähriger in einem evangelischen Internat. Die auf Kirchhoffs im „Spiegel“ veröffentlichtem Essay basierende Episode eröffnet den Abend. Mit einer präzisen Schilderung dessen, was damals geschehen ist. Schwere Kost wie alles, was in diesem Bühnenwerk zu hören ist.

„Mein Vater“ ist der Bericht eines anonymen Mädchens, das vom Vater missbraucht wurde. Die Mutter wusste davon und ließ es geschehen. Ein intensiver Mittelteil, bei dem sich das Opfer auch durch die körperliche Dynamik des Tanzes aus ihrer Höhle zu befreien versucht. Es ist die dramaturgische Reduktion und Dichte, die diesen einstündigen Theaterabend zu einem intensiven Erlebnis machen, kündigt Wolfgang Spielvogel an. Auf der Bühne agieren die Schauspieler Sandra Baumeister-Roth, Ilja Kamphues und Victor Vössing. Neben den Monologen gibt es Elemente aus Gesang und Tanz.

„Das Thema hat mich gefunden“, so Wolfgang Spielvogel über die Entstehungsgeschichte von „Missbraucht“. Norbert Denef war mit seinem Fall auf den Intendanten zugekommen, der daraus eine dreiteilige Abhandlung gemacht hat. „Der Versuch, aus einem massiven Gefängnis auszubrechen.“ Dr. Thorsten Kahl war von der künstlerischen Qualität der Schauspieler sofort überzeugt. Die Intensität der Darstellung erlaube es nicht, das Stück zu oft hintereinander zu spielen, ergänzt der Theaterchef. Die Presse kommentierte die Aufführungen mit „bewegend“ und lobte eine „differenzierte schauspielerische Leistung“.

In Bensheim ist das Stück am 1. November, 20 Uhr, zu sehen. Eine Diskussion mit offenem Ende schließt sich an. Ein volles Haus ist zu erwarten. Karten sind erhältlich in der Musikbox im Kaufhaus Ganz.

Bergsträßer Anzeiger
18. Oktober 2011

3 Antworten

  1. 23. Oktober 2011

    […] im Bergsträßer Anzeiger [18.10.2011] zum Stück und zur Aufführung in Bensheim […]

  2. 13. April 2012

    […] im Bergsträßer Anzeiger [18.10.2011] zum Stück und zur Aufführung in Bensheim […]

  3. 26. Oktober 2012

    […] im Gießener Anzeiger [27.04.2012] >>>. Artikel im Bergsträßer Anzeiger [18.10.2011] zum Stück und zur Aufführung in Bensheim […]

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