Sexuell verwundet: Alles muss raus! [Bergsträßer Anzeige, 03.11.2011]
„Missbraucht“ bündelt in Bensheim im PiPaPo-Kellertheater drei Bekenntnisse zu einem dichten und beklemmenden Theaterabend
Sexuell verwundet: Alles muss raus!
Von unserem Mitarbeiter Thomas Tritsch
Eine Stunde lang monströse Stille. Das Publikum bewegt sich kaum. Auf der Bühne ein Tisch und ein Stuhl. Mehr Requisiten braucht es nicht. Die Sprache steht im Vordergrund. Drei Menschen und drei Geständnisse. Durch das Überwinden der Sprachlosigkeit erhoffen sie sich Linderung und Befreiung viele Jahre, nachdem sie sexuell verwundet wurden.
Missbraucht“ heißt das Theaterstück, das der Autor und Regisseur Wolfgang Spielvogel aus drei Textvorlagen zusammengebaut hat. Am Dienstag war der Chef des Frankfurter Autoren Theaters mit seinen drei Schauspielern zu Gast im ausverkauften PiPaPo-Keller. Die Fäden gezogen hatte der bekannte Opferanwalt Dr. Thorsten Kahl. Er sah das Stück in Bad Nauheim und wollte die Inszenierung in die Nähe der Odenwaldschule bringen. Unter Kahls Mandanten sind viele, die sexuell missbraucht wurden. Darunter ehemalige Schüler des Ober-Hambacher Landerziehungsheims.
Ideale Spielstätte
Die Spielstätte war ideal für die intime und atmosphärisch dichte Aufführung, die in Bensheim mit großem Applaus kommentiert wurde. Das Thema benötigt genau jene Unmittelbarkeit und Nähe, die das PiPaPo in jeder Hinsicht zu bieten hat. Theaterleiter Dr. Jürgen Rehm und sein Team waren auf Anfrage Kahls gleich bereit, sich auf das Experiment einzulassen: Drei Monologe von drei Menschen, die sich ihre Last von der Seele reden – ohne das Geschehene aus ihrer Biografie löschen zu können. Denn das ist ohnehin unmöglich: „Der Missbrauch hinterlässt ein Sprachloch“, sagt Ilja Kamphues in der Rolle „Sprachloses Kind“. Er berichtet von sexuellen Übergriffen eines Lehrers in einem Internat am Bodensee.
Die Episode basiert auf einem im „Spiegel“ veröffentlichten Essay des Frankfurter Schriftstellers Bodo Kirchhoff und berichtet eindringlich von der körperlichen wie seelischen Vergewaltigung des damals Zwölfjährigen durch einen evangelischen Kantor. Doch „Missbrauch ist konfessionsübergreifend“, sagt der Protagonist, der sich für sein Geständnis eine eigene Sprache gesucht hat. „Auch so wird man Schriftsteller“, so Kirchhoff, der die Ereignisse als Impuls seiner kreativen Tätigkeit wenig verschleiert.
Für immer aus der Bahn geworfen
Präzise beschreibt der Ich-Erzähler die Zeit im Internat, als ihn der Lehrer regelmäßig unter Vorwänden aufs Zimmer gelockt hat. Der „Päderast als Pädagoge“ getarnt. Er war nicht der Einzige. Aus Streicheln wurde mehr. Das Kind, nicht in der Lage, das Ausmaß der Übergriffe einzuordnen, wird in seiner Entwicklung für immer aus der Bahn geworfen. „Meine Sexualität hat bis heute etwas Verwahrlostes.“
Die Erinnerung bleibt, der Begriff Verjährung daher in jedem Fall absurd. Gerede habe es im Internat immer gegeben, aber ein Darüber-Reden habe erst spät eingesetzt. Viel zu spät. Die Opfer seien bekannt gewesen – „man hätte sich nur für sie interessieren müssen“.
Kirchhoff spricht von Doktorspielen und Fummeleien, gepaart mit stummer Liebe und echtem Begehren. Er wagt den Versuch, den Täter zu verstehen, ohne seine Taten zu rechtfertigen.
Der fließende Übergang zum zweiten Text wird durch einen sakralen Choral begleitet, den Viktor Vössing aus dem Off anstimmt: „Heilig ist der Herr, heilig ist nur er.“
„Mein Vater“ ist der Bericht eines anonymen Mädchens, das von ihrem Vater missbraucht wurde. Die Mutter ließ es geschehen. Behutsam und zögernd rollt Sandra Baumeister im roten Sommerkleid die Ereignisse auf. „Er fing an, mich auf den Mund zu küssen. Er sagte, das macht jeder Vater mit seiner Tochter, das gehöre sich so.“
In einem stummen Ausdruckstanz versucht sich die Frau, aus ihren Leiden herauszuwinden und von der Last zu befreien.
Dieses kürzere Stück bildet die dramaturgische Brücke zu Wolfgang Spielvogels eigenem Beitrag „Alles muss raus“. Es basiert auf dem Monodrama von Norbert Denef (heute 62), der als Messdiener von einem Priester und einem Organisten missbraucht worden war.
„Die Monster sitzen unter uns“
„Die Monster sitzen unter uns. Aber wer sitzt wo?“ Grandios, wie Viktor Vössing 35 Jahre nach den Verbrechen eine Rede plant, die der Familie die böse Wahrheit vermitteln soll. Vor unzähligen Manuskriptfetzen wiederholt er immer wieder gleiche Textpassagen, die von traumatischen Erfahrungen, Rachewallungen und Suizidgedanken handeln.
„Missbraucht“: ein reduzierter, komprimierter und intensiver Theaterabend im PiPaPo-Keller. Nach der Vorstellung wurden die Türen geöffnet. Frische Luft war dringend nötig.
Quelle: Bergsträßer Anzeiger, 03. November 2011