Die Einsamkeit des Michael Buback
Artikel von Nils Minkmar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 30.08.2009
Wissen ohne Macht: Wie der Sohn des Mordopfers mit seinem Buch die Ermittlungen wieder in Bewegung brachte
Gegen Ende meines Besuchs bei Michael Buback in diesem Frühjahr musste ich ihm widersprechen. „Was kann schon ein Buch?“, beschwerte er sich. Jetzt ist es erschienen, wird besprochen – aber die Behörden und die Täter übertönen sich gegenseitig in ihrem Schweigen. Nichts werde geschehen, befürchtete er, denn Wissen ohne Macht sei nichts wert.
Ich hatte, ohne ihn vorher zu kennen, sein Buch „Der zweite Tod meines Vaters“ für die F.A.Z. rezensiert und musste ihm schon aus berufsethischen Gründen widersprechen. Ich mahnte ihn zur Geduld und fand spontan ein, angesichts der Opfer, leider ungeschicktes Bild: Es sei wie mit dem alten Kölner Archiv. Sein Buch habe Brunnen im Grund geöffnet, das ganze Gebäude werde darin versinken. Michael Buback ist ein zu höflicher Mensch, um mich direkt auszulachen, aber seine Frau Elisabeth, eine passionierte Leserin, schien immerhin auf meiner Seite.
Das Gebäude, das ist im Fall um die verzögerte Aufklärung des Mordes an Siegfried Buback nicht bloß der Komplex um die Frage, wer geschossen hat. Das Gebäude, und das ist der Teil, der uns alle dringend angeht, das ist jene Vertuschungsarchitektur, die Bubacks Buch grell beleuchtet: Schon einen Tag nach dem Attentat begann eine Operation, die man, frei nach Hitchcock, „Eine Dame verschwindet“ nennen kann. Und das geschah nicht irgendwo im Dunkeln, sondern in der Tagesschau: Werden noch am 7. April 1977 mehrere Männer und eine Frau gesucht, so präsentiert bereits am 8. April der damalige leitende BKA-Ermittler Gerhard Boeden ein Set von drei neuen Verdächtigen: Christian Klar, Günter Sonnenberg und Knut Folkerts. Die Erkenntnisse, die über Nacht zu dieser Wandlung des gesuchten Personals geführt haben, sind bis heute unbekannt.
Nur weil Elisabeth Buback seit Jahr und Tag ein Zeitungsarchiv, schön analog mit Kleber und Schere, führt, war es ihnen möglich gewesen, nachzuvollziehen, dass die Berichte, etwa in der „Welt“ vom 9. April 1977, von der möglichen Tatbeteiligung einer Frau künden, die späteren aber nicht. Und es findet sich dort auch die „Bild“-Meldung von der Verhaftung von Günter Sonnenberg und Verena Becker in Singen, darüber die Schlagzeile: „Buback-Mörder“. Aber wer rechnet damit, dass „Bild“ mal recht hat?
Wer Bubacks Buch liest, das in der kommenden Woche auch in einer erweiterten Taschenbuchausgabe erscheint, folgt einer sich permanent verflüchtigenden Spur: Becker verschwindet aus Fahndungsaufrufen, aus der Berichterstattung und schließlich aus den Strafverfahren: Sie wird ausschließlich wegen der Schüsse bei ihrer Festnahme zu zweimal lebenslang und noch einmal dreizehn Jahren Haft verurteilt. Verbüßen muss sie davon neun, wesentlich weniger also als andere Mitglieder der RAF. Dann wird sie begnadigt.
Es gab, so Bubacks These, das deutliche Bestreben weniger Personen in Geheimdienst und Strafverfolgungsbehörden, Verena Becker möglichst aus dem Verfahren herauszuhalten. Warum, das ist noch nicht klar. Man kann auch die These prüfen, ob diese Personen weniger Becker als vielmehr sich selbst schützen wollten, womöglich hatte es früher einmal Kontakte der Dienste zu ihr gegeben – die „Bewegung zweiter Juni“ war durchsetzt mit Spitzeln -, und wie stünden die da, mit einer V-Frau, die die Seiten wechselt und den Generalbundesanwalt angreift?
Das alles belastet die Vorstellungskraft, auch die Michael Bubacks. Sehr lange hätte man sich schwergetan, einen systemkonformeren Bundesbürger zu finden, also ist sein Buch auch ein Bildungsroman, der den Weg beschreibt vom CDU-nahen Chemieprofessor in den besten Jahren, der sich von der Bundesanwaltschaft, der Behörde seines Vaters, bestens betreut fühlt, zu einem Skeptiker. Für viele ist er schlicht ein Querulant.
Die Resonanz des Buches führte nicht dazu, dass er bessere Unterstützung erfuhr, es wurde vielmehr einsam um ihn. Bis letzte Woche gab es in Deutschland kaum einen verloreneren Posten als das private Arbeitszimmer, in dem er mit seiner Frau Elisabeth die Akten, Briefe und Zeitungsausschnitte auswertet.
Nach dem Besuch bei den Bubacks wollte ich mich ein wenig umhören, nicht weil die Welt durch mehr Gefängnis für Verena Becker, deren Leben man sich nicht wünscht, eine bessere würde, sondern weil mich der Gedanke ärgert, dass einige Ermittler und RAFler Spezialwissen horten und die Öffentlichkeit mit einer frommen Legende abspeisen. Siegfried Buback wurde ja nicht infolge eines obskuren Familienkrachs erschossen oder weil er ein schlechter Mensch war, sondern als Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland. Und darum haben alle Bürger einen Anspruch auf die Wahrheit.
Irgendwann hatte ich Knut Folkerts am Telefon. Aus Nachforschungen des „Spiegels“ hatte sich ergeben, dass er am Gründonnerstag 1977 nicht in Karlsruhe war und in diesem Punkt wenigstens zu Unrecht verurteilt worden war. Er war sachlich, gut informiert und schien sich leise zu ärgern, wenn sich im Gespräch ergab, dass er diesen oder jenen Artikel zum Fall übersehen hatte. Später schrieb er mir, dass er sich nicht äußern wolle. Er schrieb nicht, dass er nichts zu sagen habe. Ähnlich reagierte Gerhard Boeden, der ehemalige Ermittler und spätere Präsident des Verfassungschutzes: Reizender Brief auf feinem Papier, alles Gute – aber er äußere sich nicht in der Öffentlichkeit.
Ich sprach mit Hans-Jochen Vogel, der große Sympathie für das Schicksal eines verwaisten Sohnes äußerte, zugleich aber den klugen Einwand formulierte, was denn Terroristen, die den Staat hassen, daran hindern sollte, etwaiges die staatlichen Organe belastendes Wissen für sich zu behalten?
Ich sprach mit Journalisten, die seit Jahren in der Szene unterwegs sind, mit Filmemachern und Autoren. Obwohl viele an diesem wie an allen RAF-Verfahren jede Menge auszusetzen hatten, wollte niemand Bubacks These folgen. Warum, fragten alle, sollten Organe des Staates eine Mörderin decken? Das war schlicht nicht vorstellbar. Und weil man sich das Unvorstellbare sehr gerne nicht vorstellt, empfand ich es als ironische Provokation der Geschichte, dass in diese Zeit die Kurras-Enthüllung fiel: Zwei Prozesse hatten nicht aufdecken können, dass der Mörder von Benno Ohnesorg ein Stasispion war. Die deutsche Geschichte steht auch in der Vergangenheit, wo sie daliegt wie eine Schieferplatte, nicht wirklich still, sie schlägt aus und greift nach uns.
Ich schrieb dem Bundestagspräsidenten, und er rief zurück. Norbert Lammert ist einer der wenigen, die sich für die RAF-Opfer interessieren, bei Buback hatte er sich zusätzliche Mühe gegeben und Juristen gebeten, dessen These nachzugehen. Es gebe aber in den Akten und Unterlagen, so deren Schlussfolgerung, keine Anzeichen für eine behördliche Vertuschung zugunsten einer Frau. „Zum Glück, nicht wahr?“ Ich stimmte ihm zu, fühlte mich aber nicht glücklich.
Polizei und Justiz sind weitgehend geschlossene Referenzsysteme. Ihre Akten beruhen auf anderen Akten, Wahrheit wird attestiert, wenn die Texte sich nicht widersprechen. Eine Frau, die es in den Ermittlungsakten nicht gibt, kann von den besten Staatsanwälten nicht angeklagt werden. Und eine fehlende Anklage führt nicht zu einem Fehlurteil. Man musste nur der Weisheit von Kurt Tucholsky über das Redigieren folgen: „Was gestrichen ist, kann bei der Kritik nicht durchfallen.“
Das fiel umso weniger auf, als die rechtsstaatliche Gesamtbilanz ausgeglichen war: Es wurden Personen für den Mord an Siegfried Buback und seinen Begleitern verurteilt, und die von Michael Buback Verdächtigten sind ebenfalls verurteilt worden. Wer sollte sich beschweren? So gingen Jahrzehnte ins Land, bis Michael Bubacks Buch erschien. Berichte darüber erinnerten Zeugen daran, dass ihre Beobachtungen ja gar nicht in die Strafverfahren eingeflossen waren.
Nach einer Lesung in Karlsruhe bekam Michael Buback den Brief einer Dame überreicht. Als er ihn gelesen und mit ihr gesprochen hatte, rief er mich an. Erst stellte er mir, mit dem Unterton von einem, der ein kniffliges Rätsel zu bieten hat und sich schon freut, wie sich sein Gegenüber blamieren wird, eine Frage. Sie betreffe das berühmte Foto, das auch auf dem Umschlag seines Buches zu sehen sei: „Wie kommt die Leiche von Wolfgang Göbel, dem Fahrer des Dienstwagens, auf die Kreuzung, während der Wagen ganz woanders steht?“
Ich hatte dieses Foto x-mal gesehen, dachte, ich würde es kennen und auch die Geschichte, die es erzählt. Und doch konnte ich diese Frage nicht schlüssig beantworten. Wenn sich die Fahrertür infolge des Beschusses geöffnet hat, warum wurde die Leiche dann nicht mitgeschleift? Es bestand schon Anschnallpflicht.
Buback stellte den Kontakt zur Autorin des Briefes her, und so hörte auch ich vor wenigen Tagen eine Version, die diese Fragen löst. Die Dame sprach mit einem weichen, süddeutschen Akzent. Sie war damals 32 Jahre alt und arbeitete als Sachbearbeiterin in der Verwaltung. Ihr Dienstzimmer überblickte die Kreuzung, an der Siegfried Buback und seine beiden Begleiter ermordet wurden.
Es waren viele Schüsse. Nachdem das Morden vollendet war, drehten sie, das ist oft nachgestellt worden, mit ihrer Suzuki zwei Runden um den Wagen und fuhren weg. Dann aber – das stand bislang nirgendwo zu lesen – stieg Wolfgang Göbel aus: „Er trug einen dünnen grauen Anzug, vielleicht eine Uniform. Keinen Mantel. Ich dachte noch, es ist doch so kalt, ohne Mantel.“ Der Gründonnerstag 1977 war ein besonders kalter Tag. Göbel, der tödlich verwundet war, hielt sich von außen an der Fahrertür fest, richtete sich auf und schrie mehrmals laut nach seiner Mutter.
„Wer“, fragte sie am Telefon leise, „sollte so etwas erfinden?“
Dann sank er zu Boden, während der Wagen mit Standgas weiterrollte – eine Beobachtung, deren technische Möglichkeit bei diesem Wagentyp Michael Buback akribisch verifiziert hat und in der Taschenbuchausgabe seines Buches erläutert.
Dass die bewegenden letzten Augenblicke von Wolfgang Göbel nie Eingang gefunden haben in all die Darstellungen des RAF-Terrors, zeigt einmal mehr, wie verhuscht die Seite der Opfer stets betrachtet worden ist. Aber die Brisanz der Zeugenaussage liegt gar nicht in dieser Beobachtung. Sie liegt in der Beschreibung, die diese Dame von der Person gibt, die geschossen hat: „Ich dachte, die Frau muss beim Zirkus gewesen sein. So gelenkig.“ Und sie dachte: „Was für eine Brutalität, für eine Frau.“ Keine Sekunde hat sie daran gezweifelt, dass der Schütze eine Schützin war.
Vor wenigen Tagen hat sich die Witwe eines Richters gemeldet, auch sie hat das Motorrad auf dem Weg nach Karlsruhe gesehen, auch sie gibt an, hinten habe eine Frau gesessen. Lauter geöffnete Quellen.
Und dennoch verbrachte Michael Buback noch die vergangene Woche in der gewohnten, blöden Lage: Ein ehemaliger hoher BKA-Beamter hatte in einem Leserbrief behauptet, der Mord an Buback sei doch aufgeklärt, unklar sei nur, „wer den Finger krumm gemacht habe“. Es war, als würde man den Kennedy-Mord für gelöst erklären, während Lee Harvey Oswald irgendwo unbehelligt Rosen züchtet. Und in der „Bild“ leugnete Verena Becker, Buback erschossen zu haben. Beide Seiten waren sich einig, alles sei in bester Ordnung, nur Michael Buback war ein Problem, er und sein blödes Buch. Selbst das Lob einer Leserin irritierte ihn, die das Werk mit dem eines „Manckels oder so ähnlich“ verglichen hatte, „offenbar schreibt der Krimis“. Ins belletristische Fach wollte er aber nicht wechseln.
Dann, plötzlich, gab der Grund nach. Die Nachricht von Beckers DNA-Spuren an den Bekennerschreiben kam zuerst. Wir rätselten, was diesen neuen Ermittlungsschub der Bundesanwaltschaft ausgelöst haben mochte. Nach Bubacks letzten Informationen arbeitete man dort doch bereits daran, das Verfahren gegen Becker einzustellen. Ob es die Bundeskanzlerin war, die das Aufklärungsversprechen, das sie ihm gegeben hat, nun wahr macht, fragte ich. Michael Buback fand mich albern.
Heute wissen wir, es war nicht Angela Merkel, es war Verena Becker selbst, die die Ermittler elektrisierte, als sie am Telefon von ihrer Absicht sprach, eine völlig neue Waffe einzusetzen: Sie wolle „die Buback-Geschichte“ aufschreiben, in einem Buch. So entstand eine Dynamik, die kein DNA-Test, keine Zeugenaussage und keine behördliche Eingabe zu entfesseln vermochte.
Was vermag ein Buch? Immerhin eine wissende Leserin herauszufordern, sie zu inspirieren, selbst eines zu schreiben. Ein Buch erzeugt sein eigenes Echo, und das erschüttert das Land und seine Geschichte. Alles fließt nun wieder. Das kann Wissen ohne Macht bewirken.
NILS MINKMAR. Alle Rechte vorbehalten. (c) F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Artikel ist erschienen in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 30.08.2009, Nr. 35, S. 21
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